Mittwoch, 25. Mai 2016

Regierung plant die Weichsel zu „begradigen“

Ein Gespräch von Marcin Gerwin mit Dr. Marteusz Ciechanowski*, 16.05.2016

Das Niveau an Zerstörungen rangiert auf einer Ebene mit dem Bau der Umgehungsstraße durch die Rospuda-Aue oder der Ausweitung des Holzeinschlages im Bialowieża-Urwald.

Marcin Gerwin: Die Regierung verkündet ihre Pläne, die untere Weichsel von Warschau bis Gdansk für den Transportverkehr durchgängig zu machen. Ist das aus Umweltschutz-Perspektive eine gute Idee?

Marteusz Ciechanowski: Das ist eine sehr schlechte Idee, von den Konsequenzen deutlich gravierender als der Durchstich der Weichselnehrung. Das ist das das Level an Zerstörungen wie die Umgehungsstraße durch die Rospuda-Aue oder die Ausweitung der Abholzungen im Bialowieża-Urwald. Die Weichsel ist der letzte der europäischen Ströme mit diesem Grad an Natürlichkeit. Einige verwenden diesen Slogan, aber ich finde ihn etwas übertrieben: Die Weichsel ist der letzte wilde Fluss in Europa. Ähnlich Flüsse sind kaum erhalten geblieben, in dieser Größe ist er selbstverständlich einer der letzten. Ein Wasserbauprojekt dieser Größe würde zu dem Verlust des jetzigen Charakters führen. Außerdem ist sie auf diesem Abschnitt komplett durch das Natura 2000 Programm geschützt. Das ist also nicht nur ein Naturschutzproblem, sondern auch ein rechtliches Problem.

Damit die Lastfähren Waren auf der Weichsel transportieren können, ist eine Vertiefung des Flussbettes notwendig. Was ist daran eigentlich schlecht?

Die Vertiefung ist verbunden mit der Beseitigung der Sandbänke. Wenn die Fluss mäandriert bildet er Sandbänke, Inseln verschiedener Sukzessionsstadien, angefangen bei dem blanken Sand bis zu Inseln mit Weidengebüschen und Weichholzauwäldern. Das ist der Schlüssel der Biodiversität der Weichsel, zumal auf den Inseln auch Wasservögel, wie Seeschwalben und Regenpfeifer-Arten, brüten. Sie sind das Hauptschutzobjekt der FFH-Vogelschutzgebiete. Der Verlust ihrer Lebensräume lässt sich nur sehr schwer oder gar nicht kompensieren.

Damit die Weichsel eine Wasserstraße der angestrebten Klasse werden kann, muss man sie salopp gesagt begradigen.

Man muss Buhnen bauen, die ein Mäandrieren verhindern, in Folge dessen der Fluss ein gerader Kanal wird. Dagegen ist ein natürlicher Fluss ein dynamisches System, der sich nicht in einem bestimmten Zustand einfrieren und stabilisieren lässt. Mal entsteht die Sandbank hier, mal dort. Es entsteht eine Insel und dann wird sie wieder vom Fluss weggespült. Es gibt auch regelmäßige Hochwasser, die neue Sedimente mitbringen. Man kann nicht planen, dass hier ein Weidengebüsch, hier eine Insel und hier eine nackte Sandbank mit einer Regenpfeifer-Kolonie sein soll. So funktioniert das nicht. Ein natürlicher Fluss arbeitet die ganze Zeit.
Durch den Bau des Staudammes in Wroclawek hat sich die Geschwindigkeit der Sedimentation in der unteren Weichsel stark verlangsamt, da sich die gesamte Sedimentfracht in dem unglückseligen Staubecken sammelt. Dabei ist die Anspülung von Sedimenten essenziell für die Entwicklung der flussbegleitenden Pflanzengemeinschaften, darunter auch die wertvollen Schwarzpappel-Weiden-Auwald, der nur an einigen Standorten erhalten geblieben hat. Für die Vögel sind die Auswirkungen des Ausbaus kaum auszumachen. Denn genau das, was den Wert der Weichsel ausmacht, sind eben Vögel, die an Sandbänke, Strände, Inseln und an die Flussdynamik und den Sand-Transport gebunden sind.  Die Vögel bauen ihre Nester auf den Sandbänken, weil sie dort geschützt sind vor Räubern. Wenn die Antwort darauf die Verankerung einiger Schwimminseln wie bei Kwidzyn ist, so dass die Regenpfeifer auf ihnen nisten können – was sie auch tun -, dann ist das nicht ausreichend. Im Fall bestimmter Investitionen, wie Brücken, die entstehen werden, müssen diese kompensiert werden. Jedoch kann man mit solchen Kompensationen nicht ein ganzes dynamisches Fluss-Ökosystem ersetzen.

Sind nur die Vögel bedroht?

Die Entfernung der Sedimente bei der Vertiefung stellt auch eine Gefahr für das dar, was unter Wasser lebt. In der Weichsel leben wertvolle Fischarten wie Steinbeißer, Rapfen oder Neunaugen. Das Fluss-Neunauge hat in der Weichsel seine Laichplätze. Es gehört zu den sehr seltenen Arten, die in der Polnischen Roten Liste aufgeführt ist. In der Weichsel kann es sich reproduzieren.
Für die Wasserstraße sind zusätzliche Staudämme notwendig. Teilweise erklärt sich das aus der Unterstützung des Staudamms in Wroclawek, die bereits Altersschwächen zeigt und eine Hochwassergefahr sowie ein Baurisiko darstellt. Besser wäre es diesen Damm abzureißen, die toxischen Sedimente, die sich über Jahre dort abgesetzt haben, zu entnehmen und die Staustufe komplett zu entfernen. Wenn wir jedoch eine Wasserstraße bauen, werden viele dieser Kaskaden erforderlich sein.

Regulierte Flüsse besitzen eine zwei- bis dreimal geringere Fischartenvielfalt im Vergleich zu unregulierten Flüssen. Die Weichsel hat gegenwärtig eine ziemlich reiche Fischfauna.

Auch die im Wasser lebenden Wirbellosen sind gefährdet. Die allergefährdetsten Eintagsfliegen in Europa, sind keine Insekten, die an saubere Bergbächen gebunden sind, sondern Arten der Tieflandsflüsse mit einer sandigen Sohle. Das betrifft auch die Eintagsfliegen. Viele der Arten sind in Polen bereits ausgestorben. Die Unterläufe der Flüsse sind in Europa am meisten bedroht, da sie am stärksten verändert worden sind. In den Bergen gibt es hingegen noch viele sauerstoffreiche, saubere Bäche. Mit ihnen gibt es kein Problem. Das Problem sind die Flussunterläufe. In Europa gibt es sie kaum noch, da fast alle großen Ströme reguliert und begradigt sind und keinen natürlichen Charakter mehr aufweisen. Arten, die an sandige Sohlen der Flüsse gebunden sind, sterben dann aus. Auch in Polen ist eine Reihe von Eintagsfliegen-Arten ausgestorben oder wir können sie als nächstes verlieren.

Du hast auch die Libellen erwähnt.

Was die Libellen der Tieflandsflüsse, wie die Keiljungfer, betrifft, kommen Entomologen aus ganz Westeuropa um ihr massiges Schlüpfen an polnischen Flüssen, wo Tausende Exemplare fliegen, zu beobachten. Ihre Larven entwickeln sich in der sandigen Sohle in den Unterläufen der Flüsse. Im Westen gibt es sie nicht mehr. Einige Flüsse sind einfach vollkommen kanalisiert, wie Teile des Rheins.

Die EU-Richtlinien regen jedoch dazu an, Waren über die Flüsse zu transportieren.

Die Logik der EU-Richtlinien funktioniert so, dass zuerst gewaltige Mittel ausgegeben werden, um Flüsse unter dem Vorwand der Binnenschifffahrt oder des Hochwasserschutzes zu zerstören, und danach wird versucht für ebenso viel Geld die gleichen Flüsse wieder zu renaturieren. Es gibt sogar hydrotechnische Methoden zur Wiederherstellung von Mäandern. Es entstehen ganze Lehrbücher zu diesem Thema. Es würde einfach ausreichen die Flüsse nicht zu zerstören.
Aus dem Westen kommen Leute und schauen sich in Warschau die Weichholzauen an, also flussnahe Wälder im Deichvorland, die jedes Jahr überschwemmt werden. Sie fragen wie viel die Wiederherstellung bei uns gekostet hat?
Dann fragen Leute aus Polen zurück, aber welche Wiederherstellung? Es war doch immer hier. Wir haben es noch nicht geschafft sie zu zerstören, aber wir haben das ganz bald vor, weil wir alles so haben wollen, wie ihr.

Überzeugt Dich das nicht, dass der Wassertransport ökologischer sein kann als der Straßentransport? Vielleicht wäre es in der Gesamtbilanz besser, wenn der Transport zu größeren Teilen über das Wasser als mit LKWs über Land erfolgt?

Ökologisch ist auch der Schienentransport, und das Schienennetz haben wir schon. Es würde ausreichen, es zu modernisieren, um es leistungsfähiger zu machen. Auf Zügen kann man auch LKWs transportieren. Es ist die bessere Lösung, weil dafür keine zusätzlichen Naturzerstörungen erforderlich sind. Allerdings können wir im Fall der Weichsel einen außergewöhnlichen Fluss von hohem natürlichen Wert zerstören. Es ist ein Fluss, der von den Menschen genutzt wird, Menschen wohnen an ihm, im Deichvorland befinden sich Weiden und Wiesen. Es ist also kein klassisches Rückzugsgebiet wilder Natur oder das einzige gut erhaltene Durchströmungsmoor westlich des Urals, wie im Fall der Rospuda. Jedoch ist die Weichsel trotzdem ein außergewöhnlich wertvoller Fluss im europäischen Maßstab.

*Dr. Mateusz Ciechanowski – wiss. Mitarbeiter des Lehrstuhls für Ökologie und Zoologie der Wirbellosen an der Danziger Universität.

Der Artikel kann auf polnisch nachgelesen werden unter: 
http://m.krytykapolityczna.pl/artykuly/gospodarka/20160516/rzad-planuje-wyprostowac-wisle


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